REDAKTIONSDIENST: MAGAZIN

Interview mit Dr. Karl-Heinz Pantke dem Vorsitzenden von LIS e.V.

*Dr. Pantke, Ihr Patientenschicksal ist für Laien gleichermaßen wie für Fachleute und Ärzte eine tatsächlich unglaubliche Begebenheit - wie geht es Ihnen zur Zeit?

Es geht mir gut, weil ich froh bin, noch am Leben zu sein. Auch weiß ich von anderen Patienten, die erst nach Jahren oder sogar nie die Locked-in Phase verlassen. Ich weiß die positive Wendung der Erkrankung natürlich zu schätzen. Aber richtig Freude kommt nicht auf bei jemandem, der gerade der Hölle entkommen ist. Irgendwie haftet das Vergangene an einem. Ich habe den Krankheitsverlauf, außer für das Buch, weitgehend verdrängt. Wenn einem Menschen etwas Schreckliches passiert, ist es manchmal das Beste nicht zurückzublicken oder sich umzudrehen. Diese Weisheit ist sehr alt. Denken Sie an die Geschichte aus der Bibel, als Lots Frau zu einer Salzsäule erstarrt, während sie sich umdreht. Dreh dich nicht um. Schau nicht zurück. Der Blick zurück lässt die Vergangenheit rosiger erscheinen als sie war, aber das Schreckliche ist so schrecklich, dass jeder Rückblick Qualen verursacht.

*Wie konnte in Ihrem Fall die richtige Diagnose gestellt werden, welche Anzeichen von Ihnen gaben Hinweise auf Locked-in?

Zunächst muss gesagt werden, dass die Erkrankung überaus selten ist. Direkt nach dem Infarkt war ich zu keinem Lebenszeichen fähig. Meine Atmung und mein Puls müssen extrem flach gewesen sein. Nicht ohne Grund wurde ich von den Sanitätern für "tot" erklärt. Ich frage mich seit dem, ob ein "und Exitus" wirklich das Letzte sein wird was ich hören werde, bevor ich vor meinen Schöpfer trete. Zu diesem Zeitpunkt ist Unterscheidung aufgrund von äußeren Merkmalen zwischen einem Locked-in und einem hirntoten Patienten selbst für Experten unmöglich. Eine exakte Diagnose ist nur möglich, falls die Aktivitäten direkt im Gehirn gemessen werden. Das ist nur mit modernster Technik möglich. Solche Untersuchungen wurden mit mir durchgeführt.

*Als Diplomphysiker und Experte für Kurzzeitphysik haben Sie Ihr größtes "Langzeit"-Experiment vollbracht - eine 3 1/2 Jahre währende Rückkehr in ein humanes Leben: Es ist Ihnen geglückt. Sie mussten und wollten sich mit der ureigensten Grenze befassen - der Grenze zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Traum, Schein und Realität. Sie sprechen auch sehr eindrucksvoll vom Verlassen aus dem eigenen Körper, eine Schilderung, die sich auch immer wieder in Berichten von Nahtoterfahrungen wiederholt. Erlauben Ihre Erlebnisse eine veränderte Betrachtungsweise zur Dimension Zeit, genügen Ihrer Meinung nach die gültigen naturwissenschaftlichen Definitionen für Zeit und Raum?

Für den Wissenschaftler haben sich die Betrachtungsweise von Raum und Zeit nicht geändert. Wissenschaft ist immer einem objektiven Maßstab unterworfen. Wenn ich mich mit einem Kollegen über ein Experiment unterhalte, kann dieser nachprüfen, ob ich die Wahrheit oder Unsinn erzähle. Um dies zu entscheiden, bräuchte er nur das Experiment zu wiederholen. Selbst den eigenen Tod vor Augen, konnten mein wissenschaftliches Verständnis von Raum und Zeit nicht ändern.
Grundlegend geändert hat sich jedoch mein Gefühl für Raum und Zeit. Die Erkrankung zeigt mir, dass jede Zeit - so schlimm sie auch sein mag - irgendwann vorüber ist. Die Erkrankung dauert jetzt 3 ½ Jahre. Die Zeitspanne kommt mir sehr kurz und gleichzeitig lang vor. Kurz deshalb, weil während dieser Zeit außer krank sein etwas Entscheidendes passiert ist. Lang deshalb, weil ich während dieser Zeit Erfahrungen gesammelt habe, die die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben nicht sammeln. Geändert hat sich auch das Gefühl für Raum. Ich unterscheide jetzt zwischen Reisen, die mit einem Ortswechsel verbunden sind und Reisen, die möglich sind ohne das der Reisende sich auch nur einen Millimeter fortbewegt.
Ihre Fragestellung schließt irgendwie ein, dass durch den gegenwärtigen Stand der Wissenschaft eine umfassende Beschreibung der Natur möglich ist. Ich habe da meine Zweifel. Das soll nicht heißen, dass das überhaupt nicht möglich ist. Ich erwarte für die nächsten Generationen ein Umdenken bei der Beschreibung durch die Wissenschaft, das unser Weltbild umfassend ändern wird.

*Der Zustand Locked-in bedeutet "Gefangen im eigenen Körper, bei nahezu vollem Verstand". Müsste einen diese Odyssee vergleichbar mit der Ihrigen nicht in den Wahnsinn treiben?

Vor der Krankheit hätte ich "ja" geantwortet. Jetzt antworte ich "nein". Außer seiner Intelligenz zeichnet sich der Mensch durch seine Anpassungsfähigkeit aus. Diese Eigenschaft haben wir mit den Ratten und den Bakterien gemeinsam. Diese Anpassungsfähigkeit ermöglicht es uns auch unter extremen Bedingungen weiterzuleben ohne wahnsinnig zu werden. Ich bin davon überzeugt, dass eine Naturkatastrophe oder ein nuklearer Abschlag nicht das Ende des Menschen bedeuten würde. Wir würden einfach unsere gegenwärtige Entwicklungsstufe verlassen. Anstatt in Häuser aus Stein würde der Mensch in Erdlöchern wohnen.

* In der Beschreibung Ihres Dämmerzustands in der ersten Zeit setzte sich die Erkenntnis eines Defizits durch - kann man dies als ersten, maßgeblichen Schritt zur Genesung betrachten? Ist gegebenenfalls nicht auch die Selbstaufgabe naheliegend? Welche Hilfen von der "Außenwelt" würden Sie vergleichbaren Locked-in Patienten wünschen?

Die erste Frage ist sehr schwer zu beantworten, weil ich natürlich nur für mich reden kann. Bei mir wurden die Drogen recht früh abgesetzt. Das hat dazu geführt, dass mir überhaupt erst klar wurde, was mit meinem Körper los ist. In diesem Sinne kann es als erster Schritt zur Genesung betrachtet werden. Notwendig, aber leider nicht hinreichend zur Genesung ist eine unglaubliche Härte gegen sich selbst. Man muss praktisch jeden Tag einen Sieg über sich erringen.
In einer solchen Extremsituation kann der Mensch unglaubliche Kräfte entfalten. Ich wundere mich über mich selbst. Wie konnte ich diese Zeit durchleben? Extreme Situationen lassen den Menschen über sich selbst wachsen. Eine Selbstaufgabe ist absolut auszuschließen.
Zunächst wünsche ich anderen Locked-in Patienten, dass sie als solche erkannt werden. Der Fall einer Locked-in Patientin, die sechs Jahre für hirntot gehalten wurde, ist so schrecklich, dass er erwähnt werden muss. Die Frau muss unglaubliches durchgemacht haben. Nachdem Locked-in Patienten als solche erkannt sind wünsche ich mir, dass sie so behandelt werden, dass ihre völlig intakten Sinne nicht auch noch verkümmern. Es muss versucht werden, den Patienten aus seiner Einsamkeit rauszuholen. Ich halte es für sehr wichtig, den Patienten häufig anzufassen, sein Tastsinn ist nicht beeinträchtigt.

*Der Locked-in Patient ist unter Umständen gänzlich seiner Kommunikationsmöglichkeiten beraubt. In einem Jahr werden das zurückliegende Jahrhundert und der anstehende Jahrtausendwechsel pünktlich als Kommunikationszeitalter in die Annalen eingehen. Bedeuten Ihrer Ansicht nach, die technischen Möglichkeiten eine grundsätzliche Chance für vergleichbare Patientenschicksale, oder ist der moderne Mensch zu kommunikationslastig, zu "technisch" geworden - er übersieht schlichtweg Signale, die über Jahrtausende Basis der zwischenmenschlichen Kommunikation waren?

Zunächst muss gesagt werden, dass Patienten mit dieser Diagnose erst eine Überlebenschance haben, seit es die technischen Möglichkeiten gibt. In der "guten alten Zeit" oder in einem Land der 3. Welt wäre für einen Locked-in Patienten qualvolles Verdursten und Verhungern die Folge. So gesehen gäbe es kein "oder" in Ihrer Fragestellung. Ich wäre jedoch extrem kurzsichtig, würde ich nicht auf ihre Bedenken eingehen. Leider neigt der Mensch dazu, einer komplexen Apparatur mehr Glauben zu schenken als seinem Verstand. Die Aussage, dass der moderne Mensch zu "technisch" geworden ist, bedeutet für mich, dass zukünftige Generationen von Technik so gestaltet sein müssen, dass der Mensch wieder mehr in den Mittelpunkt rückt. Nicht die Maschine beherrscht den Menschen, sondern der Mensch die Maschine. Eine Maschine z. B. ein Computer ist unschlagbar, wenn Rechnungen ausgeführt werden. Andererseits ist der Mensch unschlagbar, wenn es darum geht eine Entscheidung zu treffen, die mehr als simple Arithmetik ist. Die Grenze zwischen beiden Bereichen darf nicht aufgeweicht werden, soll es gelingen die noch mangelhafte Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine zu verbessern. Der Mensch und die Maschine arbeiten in völlig unterschiedlichen Bereichen. Vom Ansatzpunkt, die Überlebenschancen des Menschen mit einem Computer abzuschätzen, halte ich überhaupt nichts.

*Zu den Urängsten des Menschen zählt die Todeserklärung bei vollem Verstand, wie auch in Ihrem Fall geschehen durch die Sanitäter angesichts der Diagnose nach dem Schlaganfall. Sie sind dann doch nicht im Leichenschauhaus gelandet. Haben Sie Hoffnung, dass in der Zukunft Messgeräte dermaßen sensibilisiert werden, die denkbar schwache Signale wie die des "verstandesmäßigen Denkens" bei Locked-in- Patienten registrieren könnten und nicht erst minimale mechanische Signale wie z.B. Augenflackern erfordern…

In gewisser Weise ist das heutzutage schon möglich. Soweit ich mich richtig erinnere können einzelne Gedanken im Gehirn sichtbar und lokalisiert werden. Inwieweit einzelne Gedanken bei Locked-in Patienten dargestellt wurden, weiß ich nicht.
Viel interessanter fände ich die Fragestellung, ob andere Menschen in der Lage sind, die schwachen Signale eines Locked-in Patienten zu empfangen. Aus meiner eigenen Krankheitsgeschichte muss ich mit "ja" antworten. Leider kann ich keinen wissenschaftlichen Beweis für meine Behauptung liefern. Ich möchte deshalb nicht irgendwie metaphysisch missinterpretiert werden. Ich halte einen Vorgang, der bei einer komplizierten Apparatur möglich ist, auch für den Menschen für möglich, auch wenn wir uns z. Z. nicht vorstellen können, welcher Art diese Kommunikation zwischen Menschen sein soll.

Herr Pantke in seinem Büro

*Wie lautet Ihre Botschaft an akute Locked-in- Patienten, wenn diese augenblicklich in der Lage wären, diese Zeilen lesen zu können?

Es kann sein, daß sie kein Vertrauen in die Selbstheilungskräfte ihres Körpers haben. Während der letzten 2-3 Jahre hat ein umfassendes Umdenken in der Neurologie stattgefunden. Selbst die sehr alte Lehrmeinung "Nervenzellen wachsen nicht nach" wurde widerlegt. Ich erwarte, dass es in Zukunft ein Medikament geben wird, das Nervenzellen zum Wachstum stimuliert. Dieses Medikament wäre zwar nicht speziell für Locked-in Patienten entwickelt, aber diese könnten hiermit behandelt werden.

*In Ihrem Buch beschreiben Sie einen traumähnlichen Zustand, einen zunehmenden Realitätsverlust in einem Traumland, dennoch mit einem schrecklichen Verdacht im Unterbewusstsein. Haben Sie heute manchmal noch das Gefühl, einen langen, schrecklichen Alptraum erlebt zu haben, in dem Sie sich gewünscht haben, ganz schnell wieder aufzuwachen?

Genau das Gefühl habe ich. Außerdem ist etwas Merkwürdiges passiert. Seit ich krank bin, habe ich keinen einzigen Alptraum gehabt. Ich nehme an, dass das Erlebte so schrecklich ist, dass selbst ein Alptraum mir keinen Schrecken einjagen kann.

*Ihr Buch besitzt eine ungewöhnliche Entstehungsgeschichte. Können Sie hierzu etwas sagen?

Ich habe während meiner Krankheit Rundbriefe geschrieben, die an Freunde und Bekannte verteilt wurden. Diese Rundbriefe habe ich zu einem Buch verarbeitet. Ich hoffe so den Leser an der Entwicklung der Krankheit teilhaben zu lassen. Beschrieben werden dadurch die ersten drei Jahre nach dem Infarkt.

Wir bedanken uns für die freundliche Auskunft und wünschen für die Zukunft alles Gute.


Der gleichnamige Beitrag ist auch in der Zeitschrift "NOT - Fachzeitschrift der Schädel-Hirnverletzten" ausführlich nachzulesen.

An dieser Stelle übermitteln wir dem Verlag NOT unsern Dank.

Text: Das Interview führte Andreas Frädrich, Redaktionsdienst

Literaturhinweis: "Locked-in - Gefangen im eigenen Körper"
176 Seiten, 15,90 Euro, ISBN3-933050-08-1, 1999 erschienen im Mabuse-Verlag, Frankfurt/Main